Zwei verschenkte Gebete

Die Silvesternacht haben meine Frau und ich in Aachen verbracht. Bevor wir am 1. Januar nach Hause gefahren sind, wollten wir uns natürlich noch die Altstadt und den berühmten Aachener Dom anschauen. Kurz vor dem Hauptportal dieser Kirche sprach uns ein junger Mann mit einem Stapel Kleinpapier (christlich: Traktate) an: „Darf ich Ihnen ein Gebet schenken?“ Etwas irritiert durch diese unvermittelte Neujahrs-Ansprache fragte ich zurück: „Inwiefern?“ – „Ich möchte Ihnen ein Gebet schenken“, wiederholte der junge Mann freundlich. Da sah ich die Zettel in seiner Hand und vermutete sofort einen missionarischen Einsatz einer örtlichen Gemeinde, die sich vorgenommen hatte, für die Menschen der Stadt an Ort und Stelle zu beten. „Ja, gern“, antwortete ich und überlegte gleich, in welche Gebetshaltung ich mich am besten begeben könnte, ohne bei den umherstehenden Passanten zu große Aufmerksamkeit zu erregen. „Bitteschön“, sagte der junge Mann und drückte mir einen seiner Zettel in die Hand. Abbildung: Maria auf einer Erdkugel stehend. „Ach so“, wunderte ich mich kurz, „ich dachte, Sie würden jetzt hier für uns beten.“ – „Ja, das kann ich auch gerne tun“, erwiderte der Mann immer noch freundlich. „Okay“, freute ich mich und versuchte wieder, mich in eine unauffällige Gebetshaltung zu bringen. Mein Gegenüber bemerkte das und wirkte jetzt doch etwas verunsichert. „Ich werde dann gleich im Stillen für Sie beten“, sagte er, nickte noch einmal freundlich und gab mir damit zu verstehen, dass die Gebets-Verschenk-Aktion nun beendet war. Meine Frau und ich gingen mit geschenktem Gebetskärtchen in der Hand weiter. Als wir dann im Dom saßen, dachte ich: Eigentlich hätte ich ihm antworten müssen: „Dürfen wir denn für Sie beten?“ Und dann hätten wir an Ort und Stelle für den Verteilschriftenverteiler beten sollen: für ein gutes neues Jahr, für seine Familie, für Schutz und Segen … so ganz allgemein eben. Denn wir haben doch auch Gebete zu verschenken. Und wir tun es viel zu selten. Wie oft denke ich nach einem Gespräch, einer kleinen oder großen Problemsituation: Ich hätte direkt sagen sollen: „Komm, wir beten.“ Hab ich aber nicht. Warum nicht? Zu feige? Zu verpeilt? Zu viel Angst, der andere könnten denken: Wie fromm ist der denn? Als wir den Dom verließen, war der junge Mann nicht mehr da. Wir konnten unser Gebet also nicht mehr nachholen. Schade. Verschenkte Gelegenheit. Beziehungsweise verschenktes Gebet. So kam es also, dass an diesem 1. Januar gleich zwei Gebete vor meiner Nase verschenkt wurden: eins an mich (übrigens ein Gebet der „Frau aller Völker“, die darum bittet, dass „die selige Jungfrau Maria unsere Fürsprecherin“ sein soll) und eins … tja, an wen? … für die Katz …? Immerhin hab ich später im Stillen auch für den Gebetsverschenker gebetet. Kommt auch bei Gott an, gelle, auch wenn der junge Herr nichts davon mitbekommt.

Frau aller Völker

 

 

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