Was für ein ausgefallenes Hobby! Da wohne ich während eines Einsatzes am Fuße des Rennsteigs, Thüringer Wald, bei dem Prediger Matthias und seiner Familie. Dessen Leidenschaft besteht daraus, Kakteen zu hegen, zu pflegen und jeden einzelnen bei seinem Namen zu kennen: Acantthocalycium glaucum zum Beispiel und ähnlich einprägsame Buchstabenansammlungen. Von den weltweit bisher entdeckten Kakteen-Arten vereint Matthias hier etwa 1000. Tausend Arten wohlbemerkt, von manchen gibt es mehrere Exemplare! Liebevoll sind sie einzeln oder in passenden Gruppen in Blumenkästen und dann in kleine Gewächshäuser in den Garten gesetzt. Matthias kann mir zu jedem Kaktus die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte erzählen. Wann sie blühen, in welchem Kontinent sie ursprünglich zu finden sind, wie sie sich dem Wetter gegenüber verhalten und so weiter. „Diese Pflanzen sind Überlebenskünstler“, erklärt er. „Sie haben es geschafft, sich Strategien zu entwickeln, wie sie an Orten überleben können, wo sonst keine Pflanze eine Chance hat.“
Krass, denke ich. Normalerweise bewundere ich prächtig blühende Blumen, üppig grüne Wälder, eben die wunderbaren Hingucker der Schöpfung. Kakteen sind langweilig und sie stechen. Wer anstatt einer Orchidee auf seiner Fensterbank einen Kaktus stehen hat, bekennt sich gerne als Blumen-Vernachlässiger. „Die kannste ruhig mal vergessen“, sagt man über Kakteen. „Die brauchen nix und kommen mit ganz wenig Wasser aus.“ Hier im Garten von Matthias bekommen sie eine Wertschätzung, die ich in diesem Umfang noch nie gesehen habe. „Kakteen blühen doch“, belehrt mich Matthias, als ich ihn mit meinen Gedanken konfrontiere. Und er zeigt mir den einen oder anderen Kaktus, der aus seinem stacheligen Kleid prächtige Blüten sprießen lässt.
Noch mal krass, denke ich.
Später, als ich in einer freien Minute durch den angrenzenden Wald spaziere, Gottes wunderbare – unstachelige – Schöpfung bewundere und dabei an die Kinderveranstaltungen denke, wegen denen ich eigentlich hier bin, fallen mir die Kakteen wieder ein. Und mir fällt auf: Immer wieder haben wir stachelige Kinder in unseren Kindergruppen, die wir so gerne beiseite schieben, weil uns die Wohlerzogenen viel lieber sind. Doch wenn man genau hinschauen würde, dann könnte man erkennen, dass sich auch diese stacheligen Kinder Strategien entwickelt haben, wie sie in einer Welt, einer Familie, einer Schulklasse voller Ablehnung, Missachtung und Gewalt überleben können. Zum Beispiel, indem sie sich damit abgefunden haben, mit sehr wenig Liebe auszukommen. Indem ihre stachelige Art sie vor weiteren Verletzungen schützen soll. Wenn aber ein guter Hirte, eine liebevolle Kindermitarbeiterin sich diesem Kind mit Vorsicht, Liebe und Wertschätzung zuwenden würde, dann könnten auch zwischen diesen Dornen wundervolle Blüten entstehen. Und dann könnten wir erkennen, was für wunderbare und liebenswerte Geschöpfe gerade auch die Kinder sind, mit denen wir so viel Mühe haben. Weil sie schwierig sind, weil sie sich nicht anpassen, weil sie laut und frech sind, weil sie sich nicht an die Regeln halten.
Ich möchte mich heute von dieser Kakteensammlung noch mal ganz neu anspornen lassen, gerade die Kinder in meinen Veranstaltungen zu beachten, die auf den ersten Blick sperrig und unbequem sind und deren Dornen mir regelrecht ein Selbes im Auge sind. Gerade sie brauchen meine/unsere Zuwendung. Nährboden an Aufmerksamkeit. Wasser an Liebe. Und die gute Nachricht von dem guten Hirten, der sie hegt, pflegt, liebt und beim Namen kennt – und sei er noch so unaussprechlich.