In der Fastenzeit habe ich gerade durchlebt, was es heißt, vom Luxus etwas Abstand zu nehmen. Leben außerhalb vom Überfluss. Und während ich auf Süßigkeiten, Alkohol, Kaffee und auch weitestgehend auf Fleisch verzichte, merke ich einerseits, wie viel Bedeutung das alles sonst in meinem Leben hat. Zweitens stelle ich fest, dass das Leben tatsächlich auch ohne all das funktioniert. Und drittens wird eine Idee in mir wach, dass der Wert des Lebens eben nicht vom Essen und Trinken abhängt. So wie Jesus es immer uns wieder eingeschärft hat. Nicht vom „Brot allein“. Sondern – wovon denn?
„Ich bin gekommen, um ihnen das Leben zu bringen“, hat Jesus vollmundig seinen Jüngern versprochen. „Und zwar so, dass es überfließt.“ (Johannes 10,10)
Überfließendes Leben. Wow.
Also? Was ist das? Leben im Luxus? Nein. Das passt nicht zu Jesus.
Was sonst? „Erfülltes“ Leben? Was soll das sein?
Wenn ich Leute frage, was für sie „erfülltes Leben“ bedeutet, dann reden die wenigsten vom dicken Auto oder vom Urlaub in der Karibik. Da geht es um innere Werte. Ums Glücklichsein. Einen Sinn im Leben sehen. Ausgefüllt Sein. Inneren Frieden haben.
Und genau da setzt Jesus an, wenn er zur Nachfolge aufruft: „Wer das Wasser trinkt, das ich ihm gebe, der wird bis in alle Ewigkeit keinen Durst mehr haben. Denn dieses Wasser wird in ihm zu einer Quelle voller ewiges Leben werden“ (Johannes 4,14).
Quelle. Ewiges Leben. Keinen unersättlichen Durst nach allem Möglichen.
Klingt gut. Und attraktiv.
Verschwimmt aber direkt wieder vor meinem geistigen Auge, wenn ich mir die Nachrichten anschaue und dabei alles voller Unfrieden, Leid und Ungerechtigkeit sehe. Wie kann ich da von „erfülltem Leben“ sprechen? Ist das nicht eine Ohrfeige für alle die, deren Leben gerade von Angst und Schrecken geprägt ist?
Während ich noch darüber nachsinne, läuft mir eine junge Frau über den Weg, die gerade aus einem Tattoo-Studio kommt. Sie hat sich auf den Oberarm das Wort „Grateful“ tätowieren lassen. Dankbar. „Wir müssen wieder viel öfter dankbar sein für all das Gute, das wir haben“, erklärt sie mir, als ich sie auf dieses doch eher ungewöhnliche Wort an so sichtbarer Stelle anspreche. „Dass wir genug zu essen und zu trinken haben, dass wir ein Dach über dem Kopf und jederzeit fließendes Wasser aus der Leitung haben – alles das ist nicht selbstverständlich!“
Da ich weiß, dass diese junge Frau Christin ist, packe ich die Gelegenheit beim Schopf und frage sie: „Ist das für dich erfülltes Leben?“
„Unter anderem“, antwortet sie. „Aber es ist noch mehr. Zu einem erfüllten Leben gehört für mich auch, dass Gott bei mir ist. Dass er mich trägt. Dass er mir die Perspektive auf ein ewiges Leben bei ihm gibt.“
Das „erfüllte Leben“ zeige ja auch, dass es in jedem Leben Dinge gibt, die vorher nicht erfüllt sind. Beziehungsweise nicht ge-füllt. Wo etwas fehlt oder kaputt ist: zu wenig Selbstvertrauen, zu viel Angst und Verletzung, zu wenig Sinn und Perspektive. Genau da fülle Gott die Lücken aus: mit Mut, Selbstbewusstsein, Hoffnung, Vergebung, Versöhnung und so weiter. All das ist wie die Füllung in einem Loch. Erfüllung in einem Leben voller Baustellen.
„Und was ist mit all dem Leid, das gerade in dieser Welt passiert?“, bohre ich weiter.
„Gerade da brauchen Menschen doch diese Füllung. Das Wissen, dass sie nicht alleine sind. Dass es weitergeht. Und dass es eine Perspektive über dieses Leben hinausgeht.“ Jesus habe immerhin nie versprochen, dass Christen immer auf Rosen gebettet sind. Im Gegenteil. Wer Jesus nachfolgt, wird vielleicht sogar zusätzliche Nachteile in Kauf nehmen müssen. Jesus hat mal zu seinem Vater gebetet: „Ich bitte dich nicht, dass du sie aus dieser (kaputten) Welt rausnimmst. Aber ich bitte dich, sie hier mitten in dieser Welt vor dem Bösen zu beschützen“ (Johannes 17, 15). Also nicht vor dem bösen Leid, sondern vor „dem Bösen“, das runterzieht, ins Dunkle katapultiert und sämtlichen Mut und Hoffnung raubt. Darum empfiehlt Jesus auch in solchen Situationen einen klaren Perspektivwechsel: „In dieser Welt werdet ihr es (immer wieder) mit Angst/Druck zu tun haben. Aber tröstet euch damit: Ich habe diese Welt überwunden.“ (Johannes 15,33) Und Dankbarkeit kann dazu eine hilfreiche Einstellung sein.
Die Passionszeit und besonders Karfreitag zeigen sehr eindrücklich: Jesus selbst, der ja „das erfüllte Leben“ in sich vereint, hat sich selbst dem Unfrieden und der Ungerechtigkeit dieser Welt ausgeliefert. Er hat Folter, Spott, Sarkasmus, Ausgestoßensein und sogar den Tod am eigenen Leib erfahren. Trotzdem hat er bis zum Schluss ein „überfließendes Leben“ ausgestrahlt. Er hat geheilt, vergeben, versöhnt, vermittelt und seinen Geist ausdrücklich in die Hände seines Vaters gelegt.
Und Ostern zeigt, dass all das nicht das Ende darstellt. Sondern dass das Leben über den Tod gesiegt hat.
Ja, das letzte Ziel für uns ist das „ewige Leben“ im Himmel, wo Gott alle Tränen abwischen wird. Aber bis dahin kann das Vertrauen auf diesen Jesus, der gestorben und auferstanden ist, Hoffnung, Mut und eine positive Lebenshaltung geben. In Dankbarkeit. Auch angesichts von Leid und Tod. Leben in Fülle eben.