Die Zeit zurückdrehen

Erinnerungen an das erste Abitreffen

O Mann. Will ich da überhaupt hin? Ich lese die Mail noch mal: „Fünfzehn Jahre Abitur – das muss gefeiert werden. Und zwar auf der Hütte im ‚Tal Tempe‘. Bist du dabei?“ O Mann. Tal Tempe. Wenn ich an die Hütte in diesem Tal denke, denke ich sofort an all die Klassenfeiern zurück, die wir dort gefeiert haben und bei denen schon um zehn Uhr abends die ersten in den Wald gekotzt haben. Und jetzt soll ich noch mal da hin? Will ich die alle überhaupt noch mal wiedersehen? Den langbeinigen Gottfried, den Streber-Hans, die Zicken-Sandra? Den obercoolen Fred, der keine Chance ausgelassen hat, um Witze über mich zu reißen? Den saublöden Wilfried, der mir jedes Mal, wenn ich durch den Bus ging, ein Beinchen gestellt hat, damit ich mit meinem monstergroßen Schulranzen einmal durch den ganzen Gang stolpere wie ein Erstklässler? Will ich die echt noch mal wiedersehen?

Aber da sind auch Corinna und Anke, mit denen ich kurz vorm Abitur viel Quatsch gemacht hab. Und Mike und Dennis, die ich ewig nicht gesehen habe und die eigentlich ganz okay waren. Ich fasse mir ein Herz und antworte dieser Mail: „Na klar komme ich. Sehr gerne. Gruß Harry.“

Sofort seh ich meine Klasse im siebten Schuljahr vor mir. Von der ersten bis zur sechsten Klasse war ich immer mit denselben Leuten zusammen. Das war okay und ich kam gut zurecht. Ich hatte meinen Schulfreund Markus und das reichte mir. Wir saßen immer nebeneinander, wir waren jeden Nachmittag zusammen, wir waren wie Pech und Schwefel. Es gab noch ein paar Kinder in der Straße, mit denen ich gespielt hatte, aber eigentlich brauchte ich außer Markus niemanden.

Im siebten Schuljahr kam ich aufs Gymnasium, Markus blieb auf der Realschule. Das war bitter.

Maxi aus der alten Klasse war jetzt auch mit mir zusammen in der neuen Klasse. Wir saßen jeden Tag im Bus nebeneinander. Aber ein Freund war das eigentlich nicht. In der Klasse saß ich mal neben dem einen, mal neben dem anderen. Ein Freund war nicht darunter. Als ich im achten Schuljahr war, tauschte man in der Klasse solche Tagebücher aus, die die Vorläufer der jetzigen Freundebücher waren. Da schrieben die meisten Jungen unter „Lieblingsfreunde“ auf: „Du“. Da staunte ich jedes Mal nicht schlecht: Die bezeichneten mich als ihre Freunde, obwohl sie in keiner Pause und erst recht an keinem Nachmittag was mit mir unternahmen? Das war wirklich eine merkwürdige Definition von Freundschaft.

Samstag. Heute findet das Abitreffen statt. Ich bin ein bisschen aufgeregt. Eigentlich Quatsch. Ich muss mit niemandem reden, ich muss nicht lange bleiben, ich muss mit denen kein Leben verbringen. Die können mir alle nichts. Ich setze mich ins Auto und fahre los. Mein Herz klopft. Wie an jedem Morgen, wenn ich damals zur Schule gefahren bin. Ich muss bescheuert sein. Warum bin ich so aufgeregt? Hab ich Schiss vor den Leuten?

Damals – da hatte ich Schiss vor den Leuten. Ich war schüchtern, ich sprach kaum jemanden an. Ich verbrachte im ersten halben Jahr alle Pausen in der Bibliothek und las Bücher, obwohl ich lesen hasste. Aber wenn ich las, fiel keinem auf, dass ich niemanden zum Reden hatte.

Besonders krass wurde das deutlich, wenn ich Geburtstag hatte. In der Grundschule und bis zur sechsten Klasse hab ich natürlich meinen Freund Markus und ein paar halbwegs gute Freunde aus der Straße und aus der Klasse eingeladen. Mit 13 oder 14 hab ich mit den anderen aus der Straße kaum mehr gespielt. Mit den Freunden aus der alten Klasse erst recht nicht. Der Kontakt mit Markus wurde leider auch immer weniger. Und in der jetzigen Klasse hatte ich keine Freunde. Außer denen, die in mein Freundebuch geschrieben hatten: „Lieblingsfreund – du“. Also hab ich die eingeladen, auch wenn ich mich weder vorher noch nachher mit denen mal verabredet hatte. Und auf deren Geburtstag wurde ich auch nicht eingeladen. Schon doof. Aber was machte man? Man tat so, als merkte man das nicht oder zumindest, als machte es einem nichts aus.

Ich schüttel den Kopf, als ich auf den Parkplatz fahre. „Tal Tempe“, steht auf einem Schild. Die Schuljahre sieben bis zehn waren echt ein Tal für mich. Besonders für mich als Christ war es noch mal extra schwer, hatte ich das Gefühl. Warum eigentlich? Christ zu sein ist doch was Schönes. Oder?

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit 12 Jahren Christ wurde. Natürlich hatte ich vorher schon von Gott gehört. Ich ging regelmäßig in den Kindergottesdienst und das gefiel mir auch ganz gut. Die Geschichten waren interessant und spannend. Ein sprechender Esel, ein menschenverschluckender Fisch, ein Jesus, der übers Wasser laufen konnte. Nett. Aber dass die Geschichten irgendwas mit meinem Leben zu tun gehabt hätten, war mir nicht klar. Hätten die Mitarbeiter „Hänsel und Gretel“ oder „Schneewittchen“ erzählt, hätte ich das auch interessant und spannend gefunden.

Das war anders, als mich mein Freund Markus mit in die Jungschar nahm. Jungschar – das war eine Gruppe für Jungen von 9 bis 13. Dort gab es lustige Spiele und tolle Mitarbeiter. Was mich am meisten beeindruckte, war die Art, wie hier über Gott und Jesus gesprochen wurde. Plötzlich spürte ich: Das hat was mit den Mitarbeitern zu tun! Die richteten ihr ganzes Leben nach Jesus, nach der Bibel aus! Das fand ich schon krass. Und weil ich die Mitarbeiter bewunderte, begann ich, mich nach diesem Glauben und nach diesem Jesus zu sehnen. Als dann unser Jungscharleiter einmal sagte, wir Jungen könnten auch ein Freund von diesem Jesus werden, wir könnten ihm im Gebet sagen, dass wir zu ihm gehören wollten, da war für mich klar: Das will ich auch. Ich betete mit meinem Jungscharleiter, er zeigte mir einen Satz aus der Bibel (Johanes 3, Vers 16, das weiß ich bis heute noch) und sagte: „Ab heute gehörst du zu Jesus. Für immer.“ Boah. Das war ein starkes Gefühl.

Mein Jungscharleiter gab mir noch ein Heft mit: „Mein Weg mit Jesus“, das ich danach bestimmt hundertmal gelesen hab. Und er gab mir sofort einen Auftrag: „Dass du zu Jesus gehörst, ist nichts Geheimes. Das darfst du nicht für dich behalten. Das musst du als erstes deinen Eltern und deinen besten Freunden sagen.“ Puh, dachte ich. Das stand aber nicht im Vertrag! Hätte ich das mal vorher gewusst … Aber ich überwand mich, ich erzählte es meinen Eltern und meinen Freunden (jedem im Einzelgespräch) und siehe da: Jeder von ihnen fand es auf seine Weise irgendwie gut.

Ich bekam in der Jungschar ein Heft zum Bibellesen: „Guter Start“. Das las ich ganz tapfer. Jeden Tag. Obwohl mich niemand antrieb. Mein Glaube trieb mich an. Ich war jetzt ein Freund von Jesus und von daher war es doch logisch, dass ich in der Bibel las und so quasi Zeit mit meinem Freund verbrachte.

In meiner neuen Klasse auf dem Gymnasium erinnerte ich mich hin und wieder daran, dass mein christlicher Glaube kein Geheimnis war. Und in „Guter Start“ und in dem Nachfolgeheft für Teens wurde ich auch immer mal wieder dazu aufgefordert, vor meinen Mitschülern meinen Glauben zu bekennen. Aber erstens hatte ich dazu überhaupt keine Lust und zweitens wusste ich auch gar nicht, wie ich das anstellen sollte.

Was machte ich? Ich pinnte einen Button mit der Aufschrift „Jesus lebt“ an mein Federmäppchen. Aber niemand sagte etwas dazu. Und ich auch nicht.

Einem Sitznachbarn, mit dem ich mich ganz gut verstand, gab ich einmal mein geliebtes Heft „Mein Weg mit Jesus“ mit nach Hause. Zum Ausleihen natürlich, denn für mich war das von riesengroßem Wert. „Danke“, sagte der und steckte das Heft ohne weiteren Kommentar in seine Schultasche. Als ich nach ein paar Tagen fragte, wann er mir das Heft wieder zurückbringen würde, sagte er nur: „Ich glaub an Gott. Auf meine Weise. Und jetzt lass mich damit in Ruhe.“ Das Heft bekam ich nie wieder zurück.

Was machte ich noch? Ich betete für meine Mitschüler. Schon mal ein Anfang. Aber Freunde in der Klasse bekam ich dadurch nicht.

Einmal sagte Ole, mein Sitznachbar, aus heiterem Himmel mitten im Unterricht zu mir: „Harry, ich hasse dich.“

Sofort schossen mir eine ganze Reihe Gedanken durch den Kopf: Erstens: Ole, du Idiot, du kannst mich mal, ich hasse dich auch. – Zweitens: Oh Mann, jetzt hab ich nicht nur keine Freunde in der Klasse, sondern auch noch solche, die mich richtig hassen. Feinde sozusagen! – Drittens: Feinde, war da nicht was? „Liebet eure Feinde“, hatte ich in der Bibel gelesen. Das konnte ich nie umsetzen, denn ich hatte ja keine Feinde. Jetzt hatte ich einen! Schlimm. Aber auch gut, denn jetzt konnte ich das Gebot von Jesus umsetzen!

Und so antwortete ich Ole spontan: „Ich wollte dich übernächste Woche auf meinen Geburtstag einladen.“

„Oh, Harry, du lädst mich auf deinen Geburtstag ein? Oh, dann verzeih bitte, dass ich eben so etwas Gemeines zu dir gesagt habe. Sollen wir Freunde sein?“

So oder ähnlich dachte ich, würde Ole reagieren. Tat er aber nicht. Er sagte nur: „Ja, ist gut. Was wünschst du dir?“ Als wäre es ganz logisch, ihn nett zu finden und zum Geburtstag einzuladen. So langsam begann ich wirklich, diesen Kerl zu hassen.

Aber das wollte ich ja nicht. Ole war jetzt mein erklärter Feind, den ich lieben wollte und für den ich verstärkt beten wollte. Das tat ich auch. Ole war also auf meinem Geburtstag. Es war kein wahnsinnig aufregender Geburtstag, aber er war okay. Trotzdem wurde weder Ole mein Freund, noch besserte sich unser Verhältnis. Na gut, so Sprüche wie „Ich hasse dich“ kamen nicht mehr. Aber eigentlich hatte ich gehofft, Ole würde auch Christ werden. Immerhin war ich ihm doch ein leuchtendes Vorbild. Dachte ich zumindest.

Jedenfalls lernte ich in dieser Zeit ausdauernd zu beten. Ich betete, Gott sollte mich lockerer machen, damit ich mich nicht andauernd zurückziehen würde. Ich betete, Gott sollte mir Freunde in der Klasse schenken. Am liebsten auch solche, die Christen waren. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sich was änderte.

Erst im elften Schuljahr, als die Klassen noch mal ganz neu zusammengewürfelt wurden (damals war das Abi ja noch in Klasse 13), änderte sich die Lage für mich schlagartig. Auf einmal waren lauter nette Leute in meiner Klasse, auf einmal konnte ich locker auf die anderen zugehen, auf einmal waren einige meiner Mitschüler sogar Christen. Und auf einmal konnte ich die Schulzeit so richtig genießen. Das war sehr cool. Aber es waren vier harte Jahre gewesen, in denen ich nicht wirklich Anschluss an irgendeine der Cliquen bekommen hatte.

Tal Tempe. Ich gehe auf die Hütte zu. Da sitzen schon die ersten. Ich tu also wieder so, als wär ich cool wie immer. Inzwischen bin ich auch cooler. Zumindest macht es mir normalerweise nichts aus, auf andere zuzugehen. Aber jetzt sehe ich all die Freds und Wilfrieds und Sandras. Alle sind fünfzehn Jahre älter geworden, aber trotzdem noch gut zu erkennen. Und schon kommt der erste auf mich zu. Florian, neben dem ich auch mal gesessen hab. Der war auch ganz nett und hatte in mein Freundebuch geschrieben: „Lieblingsfreund – du“.

„Hallo Harry!“

„Hallo Florian!“

„Na, was machst du jetzt so?“

Aha. Die Einstiegsfrage. Beruf, Familienstand, Einkommen. Ich bin Kinderreferent beim Bibellesebund. Einem christlichen Verein, der meinen geliebten „Guter Start“ von damals herausbringt. Ich habe sozusagen mein Christsein zum Beruf gemacht. Ob ich jetzt hier schon wieder eine Bauchlandung als Christ mache?

„Also“, beginne ich zu stammeln, „ich arbeite bei … ähm, also … einem christlichen Verein und mach da … also … christliches Kinderprogramm …“

Florians Antwort verblüfft mich: „Echt? Cool, das kenn ich auch! Ich mach auch Jungschar in unserer Gemeinde.“

„Was? Du bist auch Christ?“

„Ja, klar.“

„Auch damals schon?“

„Ja. Du etwa auch?“

„Ja, klar!“

An diesem Abend kommen Florian und ich schnell und gut ins Gespräch. Über unser jetziges Leben und auch über die Klasse damals. „Ich hab mich in unserer Klasse nie wohl gefühlt“, gebe ich irgendwann zu, „denn ich hatte immer das Gefühl, ich bin Außenseiter.“

„Ja“, sagt Florian, „das Gefühl hatte ich auch.“

Wie bitte? Jetzt muss ich mich doch sehr wundern. Florian ging es genauso? Warum hat er das damals nie gesagt? Im Laufe des Abends unterhalte ich mich noch mit anderen aus meiner alten Klasse. Die meisten haben die Klassengemeinschaft nicht gut gefunden. Mehr, als ich gedacht habe, sind Christen gewesen, aber ich hab sie nie danach gefragt und sie mich auch nicht. Ganz viele haben sich allein und ausgeschlossen gefühlt. Aber keiner wollte es zeigen, also haben alle ganz cool getan, als wäre jeder mit jedem befreundet. Und wenn mir die anderen ins Freundebuch geschrieben haben: „Mein Lieblingsfreund – du“, dann war das vielleicht sogar ein Hilferuf? Eine Frage: Willst du mein Freund sein? Und ich Blödmann hab gedacht, ich bin der einzige, der sich hier nach Freunden sehnt!

Während ich in dieser Nacht nach Hause fahre, denke ich immer wieder: Wenn ich die Zeit noch mal zurückdrehen könnte, dann würde ich manches anders machen. Ich würde mehr auf die anderen zugehen. Ich würde sie fragen: Wie geht es dir? Bist du auch Christ? Sollen wir uns heut Nachmittag mal treffen? Besonders auf die würde ich zugehen, die eher unauffällig sind und die nicht mit coolen Sprüchen prahlen. Gott hatte meine Gebete längst erhört. Da waren Christen in meiner Klasse. Da waren nette Mitschüler, die sich auch Freunde wünschten. Aber ich war nur mit mir und meinem Selbstmitleid beschäftigt. Ich glaub, das würde ich heute anders machen.

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