Onkel Martin erlebt gerade seine ganz persönliche Jungscharstunde bei Jesus. Oder seinen Seniorenkreis. Oder er genießt es einfach, seine Hilde bei bester Gesundheit wiederzutreffen und mit ihr im Himmel ohne Rollator und ohne Rollstuhl herumzuspazieren.
Onkel Martin ist nicht mein Onkel im familiären Sinne. Alle Männer über 40, die man damals in unserem Dorf beim Vornamen ansprechen durfte, wurden ehrfürchtig mit „Onkel“ betitelt. Auch alle in meiner Jungschar nannten ihn „Onkel Martin“.
Ein Schulfreund hatte mich in den 70er Jahren mit in die Jungschar gebracht. Onkel Martin hatte mich freundlich begrüßt und mich nach meinem Namen gefragt. Wir spielten Spiele, sangen Lieder, hörten etwas von Gott. Insgesamt gar nicht so doof, wie ich vorher befürchtet hatte.
Also ging ich eine Woche später mit meinem Schulfreund noch einmal hin.
„Hallo Harry“, wurde ich sofort begrüßt. Und als Onkel Martin Einladungszettel für eine Wochenendfreizeit an die anwesenden Jungs verteilte, die alle handschriftlich personalisiert waren, und ich einen mit den Anfangsworten: „Lieber Harry …“ bekam, war ich vollends beeindruckt. Dieser Mann hatte sich nicht nur von letzter Woche zu dieser Woche meinen Namen behalten. Er hatte mir auch schon beim zweiten Mal einen Brief mit meinem Namen in die Hand gedrückt, als gehörte ich schon immer dazu. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt höchstens zehn Jahre alt war, hab ich diese Mischung aus Wertschätzung, Annahme und Zugehörigkeit so stark empfunden, dass ich ab sofort wirklich dazu gehörte. Jede Woche stand ich auf der Matte. Die Jungschar gehörte zu meinem Leben bis zu meinem 13. Oder 14. Lebensjahr.
Außer Onkel Martin waren noch jede Menge andere Mitarbeiter da, die meisten zwischen 16 und Mitte zwanzig Jahre alt. Auch die hab ich geliebt und verehrt. Aber Onkel Martin stach mit seinem Glauben, seinem Leben, seiner Persönlichkeit doch noch mal deutlich raus.
Onkel Martin war jede Woche da. Jede Woche. Sogar in den Ferien. Onkel Martin hat zugehört. Onkel Martin hat nachgefragt. Onkel Martin hat sich interessiert. Onkel Martin hat riesige Spiele aus Holz gebaut. So viele, dass sie in einer riesigen Scheune lagerten. Onkel Martin hatte immer auch Ersatzprogramme in der Tasche für Nicht-Fußballer wie mich, sodass ich auch an Tagen, an denen alle anderen in der Jungschar Fußball spielten, meinen Spaß hatte.
Onkel Martin wusste, was ich mochte und was nicht. Er hatte sogar mitbekommen, dass meine jüngere Schwester zu Hause „schöne Steine“ sammelte (meistens Kieselsteinchen, die sie auf dem Nachhauseweg aus der Schule irgendwo am Wegesrand aufgesammelt hatte) und gab mir einmal glänzende Bergkristalle für sie mit, die er selbst in einem Bergstollen gefunden hatte.
Onkel Martin war Arbeitskollege von meinem Opa. Mein Opa hatte nicht viel für Pfarrer und andere fromme Typen übrig. Aber sobald die Sprache auf Onkel Martin kam, war er hellauf begeistert: „Auf den lass ich nix kommen! Das ist mal ein Christ, der seinen Glauben lebt!“
Onkel Martin hat von seinem Glauben erzählt. Von Gebetserhörungen. Von Bibelversen, die ihm wichtig waren. Von biblischen Personen, von Missionaren – manchmal auch als spannende Fortsetzungsgeschichten. Onkel Martin hat mir einmal eine Leseprobe von „Guter Start“ in die Hand gedrückt mit den Worten: „Schau mal, ich glaube, das könnte was für dich sein.“ Und so hab ich mit Bibellesen angefangen. Tag für Tag. Quartal für Quartal. Zuerst mit der Traubibel meiner Eltern, weil wir keine andere zu Hause hatten. Dann mit der ersten eigenen Bibel. Zusammen mit den Impulsen aus der Jungschar, den Versen aus der Bibel und dem vorbildlichen Christenleben von Onkel Martin wuchs in mir ein Glaube, der mir als Kind schon Mut und Hoffnung gegeben hat. Ich merkte, wie aus dem schüchternen, verklemmten Harry ein offener, fröhlicher Mensch wurde. Ich lernte, dass dieser Jesus, von dem in der Bibel erzählt wird, auch heute lebendig ist und denen zur Seite steht, die mit ihm befreundet sind. Und als Onkel Martin einmal davon erzählte, dass man mehr oder weniger ein „neues Leben“ anfangen – oder mehr noch: wiedergeboren werden kann, wenn man beschließt, ab sofort mit diesem Jesus zusammen durchs Leben gehen möchte, war der Entschluss für mich klar: Das möchte ich. Ich möchte mit diesem Jesus leben, der auch Onkel Martin und den anderen Mitarbeitern zur Seite steht. Und so hab ich eines Tages mit Onkel Martin in der kleinen Küche hinter dem Jungscharraum gesessen und gebetet. Und im Gebet zu Jesus gesagt, dass ich mit ihm leben möchte. Und Onkel Martin hat auch gebetet und für mich gedankt. Anschließend hat er zu mir gesagt: „Ab jetzt gehörst du zu Jesus. Jesus selbst passt auf dich auf. Und niemand kann dich von ihm wegreißen.“ Ein Auftrag gab es direkt dazu: „Das soll nicht geheim bleiben. Du solltest das als erstes deinen Freunden und deinen Eltern erzählen.“ Das hab ich natürlich ganz brav erledigt, auch wenn mir dabei ganz schön die Knie schlotterten.
Später war ich dann selbst Mitarbeiter in einer Jungschar. Immer wieder. Auch an den verschiedenen Orten, an denen ich im Laufe von Zivildienst und Studium gewohnt habe. Und obwohl ich längst keinen Kontakt zu Onkel Martin mehr hatte und der auch schon gar nicht mehr in dem Dorf wohnte, in dem ich groß geworden bin, war er stets mein großes Vorbild. „Wenn ich mal so Jungschar mache wie Onkel Martin, dann mach ich es richtig gut“, hab ich mir hin und wieder vor Augen geführt: Wenn ich die Kinder wertschätze. Wenn ich mir ihre Namen merke. Wenn ich mich für sie interessiere. Auch für ihren Hintergrund und ihre Familien. Für ihre Hobbys und Vorlieben. Wenn ich sie ernst nehme, wenn ich ihnen zuhöre. Wenn sie dabei sein dürfen, auch wenn sie die vorgeschlagenen Spiele nicht spielen möchten. Wenn ich ihnen Mut mache, wenn sie Angst haben. Wenn ich mit ihnen und für sie bete. Wenn ich mein Leben und meinen Glauben mit ihnen teile. Ohne Imperative, aber mit viel Herz.
Übrigens hab ich erst außerhalb meines Dorfes festgestellt, welch weitreichende Spuren Onkel Martin gelegt hat. In ganz Hessen, ja, beinahe in ganz Deutschland waren seine riesigen Holzspiele bekannt. Die große Scheune gegenüber vom Gemeindehaus diente als bundesweiter Spieleverleih. Wenn man mich fragte, woher ich gebürtig käme, musste ich nur sagen: „Aus dem Dorf, in dem Onkel Martin die Spiele verleiht.“
Irgendwann bin ich dann zum Bibellesebund gekommen. Und bald darauf war ich Redakteur von „Guter Start“, der Bibellese-Zeitschrift, die mir selbst die ersten Schritte ins Bibellesebund und in den Glauben an Jesus Christus beigebracht hatte. Nun war ich es, der den Kindern den Zugang zur Bibel herstellen durfte. Und ich hab es geliebt, besonders den Austausch mit den Leserinnen und Lesern, die mich mit Leserbriefen überschüttet haben. In einem Brief fragte mich eine Leserin aus Bayern: „Wie bist du eigentlich zum Glauben gekommen?“ Ich antwortete ihr und erzählte von meiner Jungschar, von „Guter Start“ und von der großen Rolle von Onkel Martin. Sie schrieb zurück: „Dieser Onkel Martin ist mein Opa! Er wohnt jetzt hier bei uns in Bayern!“
Hammer!
Ich hab im selben Sommer mit meiner Familie Onkel Martin besucht. Seitdem haben wir uns jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte geschrieben. Und Onkel Martin hat Anteil an meinem Leben genommen. Die letzte Karte 2024 kam von seiner Tochter. Am 8. Dezember hat Gott Onkel Martin mit 90 Jahren zu sich geholt. Und ich bin immer noch sehr dankbar, in Onkel Martin so ein großes Vorbild und damit auch einen Wegbereiter für meinen Glauben und mein Leben haben zu dürfen. Danke, Onkel Martin!