Die Stör-Kinder in unseren Gruppen: Wer oder was hat die eigentlich gestört?
„Du gehst jetzt sofort nach Hause!“ Meine Geduld ist am Ende. Nicht nur, dass Marvin mir sowieso in jeder Jungscharstunde die Andacht zerstört. Heute hat er auch noch sämtliche Kärtchen von der Wand gerissen, die wir für ein Suchspiel aufgehängt haben. Also schmeiß ich ihn raus. Es ist ja nicht so, als wäre Marvin das einzige störende Kind! Da ist ja auch noch Leon, der überhaupt nie mal stillsitzen kann. Und Paul, der während der Andacht unentwegt mit seinem Nachbarn quatscht. Und so weiter. Und ich kann mir doch nicht alles gefallen lassen!
Ein paar Tage später fasse ich mir ein Herz und besuche Marvin zu Hause. Im Wohnzimmer sehe ich einen Mann im Rollstuhl, der über sich, die Welt und das Leben im Ganzen schimpft. Es ist der Vater von Marvin, der vor etwa einem Jahr einen Autounfall hatte und seitdem mehrfach behindert ist. Das wusste ich nicht. Marvin treffe ich in seinem Kinderzimmer an. Er führt mir seine weißen Mäuse vor, die er in einem Käfig hält. Als ich sehe, wie zärtlich er die kleinen Mäuschen in der Hand hält und streichelt, springen mir die Tränen in die Augen. Ist das derselbe Junge, der mir am Freitag noch brutal die Zettel von der Wand gerissen hat?
Zuhause denke ich: Ist es nicht völlig logisch, dass Marvin, der ein solches Familienerlebnis verarbeiten muss, total verunsichert ist? Und dass diese Unsicherheit raus muss? Irgendwo hab ich mal gelesen, dass Aggression und Unsicherheit die beiden Seiten eines schwingenden Pendels sind: Je weiter man das Pendel in Richtung Unsicherheit zieht und dort loslässt, umso weiter schwingt es auf der anderen Seite in Richtung Aggression. Und je weiter es in Richtung Aggression ausschlägt, umso mehr fährt es wieder in Richtung Unsicherheit zurück. Unsicherheit und Aggression also in einem wechselseitigen Pendelschlag. Auf Marvin trifft das zu.
Auch auf Leon und Paul? Was weiß ich überhaupt über sie und ihre Familien?
Ich hole ein Blatt Papier und schreibe die Namen aller meiner Jungscharkinder untereinander. Dann überlege ich: Was weiß ich über sie? Was erzählen sie? Von Leon zum Beispiel weiß ich, dass er den ganzen Tag im Zimmer vor dem PC sitzt. Eigentlich logisch, dass er hier im Gemeindehaus erst mal durchdreht. Paul kommt in der Schule überhaupt nicht zurecht. Schreiben, rechnen, abstrakt denken – alles viel zu hoch für ihn. Kein Wunder, dass ihm auch die Andacht oft zu intellektuell ist.
Mehr und mehr sehe ich die Kinder nicht mehr als Stör-Kinder. Ich sehe Menschen, die eine Geschichte mitbringen. Und deren auffälliges Verhalten nicht bedeutet: „Schau her, wie frech ich bin!“, sondern: „Bitte beachte mich! Sag mir, wie ich sein soll! Frag mich, wie es mir geht!“ Hat Gott vielleicht all die Leons, Pauls und Marvins in unsere Veranstaltung geschickt, damit sie bei uns Hilfe fürs Leben bekommen? Sollten wir vielleicht grundsätzlich in unseren Gruppenstunden unsere Einstellung den Kindern gegenüber ändern? Weg vom „Wie krieg ich Disziplin in meine Gruppe?“ hin zum „Wie kann ich den Kindern, die Gott mir anvertraut hat, helfen?“
Für Marvin zum Beispiel könnte es eine Hilfe sein, wenn ich ihm ein verlässliches Gegenüber bin: jemand, der mal liebevoll und mal streng ist, aber trotzdem immer wertschätzend. Leon ist vielleicht schon geholfen, wenn wir am Anfang erst mal Rumtoben. Paul tut es gut, wenn wir oft im Wald sind, wo man nicht rechnen muss, sondern einfach klettern, bauen und dreckig werden.
Natürlich muss ich weiterhin deutlich „Nein!“ sagen, wenn die Kinder Grenzen überschreiten. Aber es ist etwas anderes, ob es mir nur darum geht, dass meine Stunde nicht gestört wird, oder ich den kleinen Rabauken helfen will. Dann kann unsere kleine Gruppenstunde tatsächlich dazu beitragen, dass in den verletzten Herzen etwas heil wird.