Jesus in der Fußgängerzone

19. Dezember. Eigentlich wollte ich nur schnell zusammen mit meiner Tochter in der Stadt etwas abholen. Erst mal hab ich natürlich keinen Parkplatz gefunden. Ich bin wohl nicht der einzige, der kurz vor Heiligabend in der Stadt was besorgen will.

Wir hetzen durch die Fußgängerzone. Mitten drin steht ein Paketauto. Den dunkelhäutigen Paketboten, der gerade aus einem Laden kommt, erkenne ich wieder. Es ist der, der trotz Stress immer gut gelaunt ist, immer lacht, immer einen lockeren Spruch drauf hat. Tatsächlich erkennt er auch mich im Vorbeigehen, lacht, strahlt, gibt mir die Hand, fragt: „Wie geht’s?“, und hält fröhlich den Daumen hoch, nachdem ich ihm sage, dass es mir gut geht.

Als ich weitergehe, fühle ich mich weniger gehetzt. Eher beschwingt. Aufgeheitert durch einen Menschen, der trotz Pakete-Vorweihnachtsstress den einzelnen sieht, wahrnimmt, grüßt und durch ein einfaches „Daumen hoch“ ermutigt. Hätte ich einen Weihnachtsgruß, wenigstens eine Schokokugel oder ähnnliches, in der Jackentasche gehabt, hätte ich ihm für diese nette Geste danken und ihm etwas zurückschenken können. Hab ich aber nicht.

Kurz entschlossen steuere ich einen Laden an, um ein kleines Päckchen mit weihnachtlichem Gebäck zu kaufen. Ich nehme mir vor, es ihm gleich anschließend zu schenken. Vor dem Laden treffe ich eine gute Bekannte, die ich länger nicht gesehen habe. Familienmama und ein gutes Stück jünger als ich. Sie trägt eine Mütze auf dem kahlen Kopf, ihre Haut wirkt krank und ausgemergelt. „Mir geht es gut“, erzählt sie. „Nach der Krebsdiagnose im Juni hat die Welt für uns als Familie einen Augenblick still gestanden. Jetzt habe ich Chemo und OP hinter mir. Und mit viel Gottvertrauen haben wir die Zeit gut überstanden.“ Ihr Mann ist mit den Kindern zu einer Vater-Kind-Kur nach Langeoog aufgebrochen. Er kann dort zur Ruhe kommen, sie hier. In den nächsten Tagen wird sie auch nach Langeoog fahren, dann werden sie die Heiligen Tage dort verbringen. „Ich hab noch nie so entpannte Weihnachten gehabt“, beschreibt sie ihre Lage. „Wenn man so von außen ausgebremst wird, muss man sich automatisch auf das Wesentliche beschränken. Und das tut gut.“ Und was kann ich, der ich nicht durch so ein Schicksal ausgebremst wurde, davon lernen, damit ich auch ohne Krankheit entspannte Weihnachten haben kann? „Keine Ahnung“, sagt sie. „In den Jahren zuvor hab ich es ja auch nicht hinbekommen.“ Für diese Familie bekommt das diesjährige Weihnachtsfest auf jeden Fall noch mal eine ganz besondere Bedeutung, die von Leben, Freude und Dankbarkeit bestimmt ist.

Schon wieder bin ich tief berührt. Ich kaufe die Weihnachtskekse und suche das Paketauto in der Fußgängerzone. Das ist inzwischen natürlich verschwunden. Schade.

Die Sonne scheint vom strahlend blauen Himmel, als wir zum Auto kommen. Es sind fast 15 Grad. Beinahe könnte man kurzärmelig die Weihnachtseinkäufe erledigen! Während wir einsteigen, sehe ich einen jungen Mann zwischen zwanzig und dreißig Jahren, vermutlich ein Student, mit geschlossenen Augen auf der Steintreppe vor einem Haus sitzen. Er lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Lange Haare, Bärtchen, genussvolles Sonnengenießen. Wieder ein anrührendes Bild mitten im Vorweihnachtstrubel. Eigentlich sollten wir uns zu ihm auf die Treppe setzen und ebenfalls die Sonne genießen. Einen Augenblick Zeit haben. Wir haben aber keine Zeit und fahren los. „Der sieht aus wie Jesus“, bemerkt meine Tochter, als wir an ihm vorbei fahren. Das stimmt! Nur nicht im biblischen Gewand! Ich muss lachen.

Plötzlich überfällt uns ein Gedanke: Wo wäre Jesus in all diesem Stress, dem man sich an den Tagen vor Weihnachten so aussetzt? Würde Jesus nicht wirklich in der Sonne sitzen und einfach genießen, wie wunderbar Gott die Sonne gemacht hat? Ich hätte mich also doch zum ihm setzen sollen! Ich hätte meine frisch gekauften Kekse mit ihm teilen und mich dabei „aufs Wesentliche“ konzentrieren sollen. Jetzt bin ich vorbei gefahren. Hätte, hätte, Christbaumkette!

Zu Hause steige ich aus dem Auto und gehe nicht gleich ins Haus, sondern genieße ein paar Minuten die Wintersonne. Ist mir heute am Ende sogar dreimal Jesus begegnet? Zum Einen in dem Paketboten, der mich sieht, wahrnimmt, grüßt und mich fragt, wie es mir geht, ohne dafür ein Dankeschön zu empfangen? Zum Zweiten in der krebskranken Mama, die trotz Sturm dankbar und gelassen ist und damit zum Vorbild für Gottvertrauen wird? Und zum Dritten in dem Studenten, der einfach da sitzt, Zeit hat und genießt? Dreimal Anti-Stress-Gesten. Dreimal Grüße aus dem Himmel. Ich fühle mich beschenkt. Und habe doch selbst nichts verschenkt. Die Kekse liegen noch hier auf dem Tisch. Ha! Ich wette, die kommen noch zu ihrem Einsatz.

Frohe, besinnliche restliche Adventszeit wünsche ich! 🙂